Am 08. November jährt sich zum 125zigsten Mal der Tag, an dem Conrad Wilhelm Röntgen eine ihm selbst zunächst unerklärliche Entdeckung machte: Beim Experimentieren mit Kathodenstrahlung schien zusätzlich eine unsichtbare Strahlung zu entstehen, die Materie durchdrang und die bestimmte Kristalle zum Leuchten anregte!
Röntgen traute seiner Entdeckung zunächst selbst nicht recht und arbeitete einige Wochen unter strengster Geheimhaltung der Versuche in seinem Labor, bis er am 28. Dezember der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft zu Würzburg seine erste schriftliche Mitteilung „Über eine neue Art von Strahlen“ übergab.
Die Fachwelt reagierte sehr skeptisch, die Presse berichtete „unter Vorbehalt“, und selbst ein guter Freund, der Physikprofessor Otto Lummer, wunderte sich: „der Röntgen war doch sonst immer ein vernünftiger Mensch, und Fastnacht ist auch noch nicht!“
Diese Skepsis wich allerdings nach der ersten öffentlichen Demonstration am 23.01.1896 einer geradezu euphorischen Begeisterung, und bereits im gleichen Jahr wurden die ersten medizinischen Röntgenaufnahmen angefertigt!
Nun würde es den Rahmen dieses kleinen Beitrages völlig sprengen, die Entwicklung der Röntgentechnik von den Anfängen bis zum heutigen Tage darstellen zu wollen. Eine Vielzahl von technischen Erfindungen hat es möglich gemacht, daß die Röntgendiagnostik heute zu einem unverzichtbaren Instrument der medizinischen Diagnostik geworden ist, ergänzt (und teilweise abgelöst) durch neuere bildgebende Verfahren, wie z.B. der Ultraschalldiagnostik und der Kernspintomografie. Aber: das Prinzip der Röntgenstrahlungserzeugung und die Strahlung selbst sind immer noch so wie zu Röntgens Zeiten!
Und: bei allen Vorzügen der automatischen Belichtung und programmierter Aufnahmetechnik: Es gilt immer noch das Prinzip der Fotografie: nicht die Kamera, sondern der Fotograf entscheidet über die Qualität der Aufnahme!
Wir wollen uns hier eher mit Tragischem, Kuriosem und Belustigendem rund um Röntgens Entdeckung befassen – das Tragische zuerst:
Niemand ahnte zunächst, daß die neue Strahlungsart schädlich sein könnte! Die Pioniere der Röntgentechnik und der Röntgendiagnostik arbeiteten mit völlig unabgeschirmten Röntgenröhren, niemand schützte sich oder die Patienten vor Direkt- oder Streustrahlung. Zwar wurden Hautrötungen oder Haarausfall beobachtet, was allerdings nur zu dem Schluß führte, daß man Röntgenstrahlen auch zur Epilation verwenden könne.
Den ersten dokumentierten (und später erst als solchen erkannten) Strahlenunfall erlitt ein Mitarbeiter Thomas Alva Edisons: Clarence Madison Dally. Er arbeitete in Edisons Auftrag intensiv an einer Art Volks-Fluoroskop. Dally verlor zunächst seine Haare, in seinem Gesicht zeigten sich Geschwüre, seine linke Hand (das Testobjekt!) schwoll schmerzhaft an. Als er mit ihr nicht mehr arbeiten konnte, benutzte er fortan die rechte Hand als Testobjekt. Nachdem ihm im weiteren Verlauf seines Leidens ein Arm bis zur Schulter, der andere bis zum Ellenbogen amputiert worden war, starb er im Jahr 1904 im Alter von 39 Jahren.
Mag Dally das erste Strahlenopfer sein, so folgten ihm unzählige weitere nach. Die Zahl der durch Strahlenschäden zu Tode gekommenen Patienten ist nicht bekannt, und der Zahl von 359 an Röntgenschäden verstorbenen Ärzten, Krankenschwestern, Technikern und Forschern, an die ein Denkmal im Garten des Hamburger St.-Georg-Krankenhauses erinnert, dürfte eine weitaus höhere Dunkelziffer gegenüberstehen.
Heutige Strahlenschutzmaßnahmen schließen Schäden für Beschäftigte nahezu aus und minimieren die Belastung der Patienten, aber als oberstes Prinzip gilt: Der diagnostische Nutzen jeder Röntgenuntersuchung ist gegen die Gefahr der Strahlenschädigung abzuwägen!
Zurück zur Euphorie der ersten Jahre:
Nichts über deren Gefährlichkeit ahnend, kam die Röntgen-Fluoroskopie regelrecht in Mode: Wohlhabende Kreise vergnügten auf Séancen-Partys mit Fluoroskopen („ich seh´ dich von innen“), in einigen amerikanischen Städten gab es „bone potrait studios“, in denen man seine Knochen fotografieren lassen konnte, und eine bekannte deutsche Spielzeugfirma plante den Vertrieb eines Fluoroskopes für das Kinderzimmer. In Frankreich wurde angeblich ein Theaterstück aufgeführt, in dem Schauspieler durchleuchtet agierten (allerdings stellt sich mir hier die Frage: wie wurde die notwendigerweise extrem hohe Dosisleistung erzeugt?).
Wenn dies kurzzeitige Episoden sein mögen, an deren Wahrheitsgehalt man auch durchaus zweifeln darf, wurde es hiermit ernsthaft gefährlich: Schuhgeschäfte führten als verkaufsfördernde Maßnahme „Pedoskope“ ein, mit denen unter Durchleuchtung mit extrem hohen Dosen die Paßgenauigkeit der Schuhe kontrolliert wurde – und dies besonders bei Kindern! Allen mittlerweile gewonnenen Erkenntnissen zum Trotz gab es diesen gefährlichen Unfug bis in die 1960er Jahre, in der Schweiz soll ein solches Gerät sogar noch 1989 in Betrieb gewesen sein.
Und nun wird es kurios:
Aus der Kenntnis der Tatsache, daß Kathodenstrahlen fotografische Platten schwärzt, schlußfolgerte Prof. Röntgen, daß dies auch seine „X-Strahlen“ tun müßten. Er bewies das mit Aufnahmen verschiedenster Gegenstände, und am 22.12.1895 fertigte er die erste medizinische Röntgenaufnahme der Welt an: die Hand seiner Frau. Allerdings: die direkte Schwärzung fotografischer Emulsionen durch Röntgenstrahlung ist recht gering, er mußte seine Aufnahme mehr als 20 Minuten belichten, um brauchbare Ergebnisse zu erzielen. Da man aber den unschätzbaren Wert dieser neuen diagnostischen Möglichkeit sehr schnell erkannte, begannen viele Forscher nach Möglichkeiten zu suchen, den unhandlichen Nachteil der langen Belichtungszeiten zu umgehen – der Strahlenschutz spielte dabei noch keine Rolle! Bereits 1896 beschäftigten sich viele Laboratorien der Welt mit der Entwicklung von geeigneten „Verstärkerfolien“ – der Filmplatte beigelegte, kristallbeschichtete Pappen, deren bei Röntgenbestrahlung emittiertes, sichtbares Licht zu einer schnelleren Schwärzung der Fotoemulsion führen sollte. Das empörte die Weltöffentlichkeit! Es wurde – auch in der Presse – die wütende Forderung laut, diesen gefährlichen Unsinn sofort zu verbieten! Schließlich könne sonst jeder, der Im Besitz einer solchen Röntgenfolie sei, seine Mitbürger nach Belieben nackt sehen! Auch vor „Röntgenbrillen“ wurde gewarnt. Unterwäschehersteller entwickelten daraufhin angeblich röntgensichere Schlüpfer, und ein großes Bekleidungshaus warb auf der Umschlagseite seines Kataloges mit einem (einer Ritterrüstung ähnlichen) Röntgenschutzanzug für den Alltag, den es allerdings nie gegeben haben dürfte.
Nun, Röntgenverstärkerfolien auf der Basis von Calciumwolframat, die in Edisons Labor bereits 1896 als die geeignetste Lösung entwickelt wurden, waren bis in die späten 1980er Jahre Standard, und niemandem gelang es, nur mit ihrer Hilfe die schöne Nachbarin (oder den schönen Nachbarn) nackt zu sehen… (und auf die „Röntgenbrillen“ kommen wir später zurück).
Röntgenfilmaufnahmen werden heute unter Verwendung von noch lichtstärkeren Verstärkerfolien auf Basis Seltener Erden angefertigt. Allerdings wird das Filmverfahren zunehmend durch moderne fotoelektrische Bildgebung ersetzt.
Ich will meine Betrachtungen mit zwei kleinen Anekdoten abschließen, die mir in meinem Berufsleben begegnet sind. Dieses begann im Jahre 1970, und in dieser Zeit stand die Röntgen-Durchleuchtung noch in einem sehr viel höheren Kurs als heute. Stand der Technik war durchaus noch die Durchleuchtung am Leuchtschirm, wozu im Untersuchungsraum absolute Dunkelheit zu herrschen hatte. Zusätzlich muß ich erläutern, daß in dieser Zeit, mangels anderer bildgebender Verfahren, notwendige Röntgenaufnahmen auch von Kleinstkindern angefertigt wurden, die dazu in speziellen Babyhüllen fixiert wurden: aufklappbaren, röhrenähnlichen Plastikhalterungen mit Gesichtsausschnitt. Zur Ausstattung jeder Röntgenabteilung gehörten daher, meist neben den Bleischutzschürzen aufgehängte, Babyhüllen in unterschiedlichen Größen…
In einer Berliner Universitätsklinik wurde mir glaubhaft berichtet, daß eines Tages ein Student der Radiologie verspätet zu seiner praktischen Ausbildung erschien, er stürzte unadaptiert in den dunklen Untersuchungsraum, wurde unwirsch angefahren und zum Anlegen der Schutzbekleidung und ansonsten ruhigen Verhalten aufgefordert. Während der mehrstündigen Untersuchungen soll er aber doch ab und zu gestöhnt und sich über den unbequemen Sitz der Schutzschürze beklagt haben. Als das Licht wieder anging, war der junge Mann zur nicht geringen Belustigung seines Professors und einiger Assistentinnen angetan mit einer Babyschutzhülle…
Die zweite Anekdote hat zu tun mit Röntgenbrillen. Ja, es gibt tatsächlich Röntgenbrillen! Allerdings gelingt es auch damit nicht, jemanden nackt zu sehen, sie dienen ganz anderen Zwecken, und auch die Bezeichnung ist nicht korrekt. Zum einen ist es notwendig, die Augen des Personals bei strahlungsintensiven Untersuchungen (Angiographie, chirurgische Eingriffe unter Röntgenstrahlung) zu schützen, dazu werden Brillen mit strahlungsschwächenden Gläsern verwendet.
Die zweite Sorte „Röntgenbrillen“ ist aus dem heutigen Gebrauch verschwunden, da anstelle des lichtschwachen Leuchtschirmes heute bei allen Durchleuchtungsanwendungen Röntgenbildverstärker verwendet werden, deren Ausgangssignal auf licht- und kontraststarken Monitoren wiedergegeben wird. Somit entfällt das früher notwendige Dunkeladaptieren des Auges, wozu ein ca. halbstündiger Aufenthalt in einem dunklen Raum erforderlich war. Die „Röntgenbrille“ (die gleiche Brille wird beim Autogenschweißen verwendet) ermöglichte mit ihren sehr dunklen (roten) Gläsern die Adaption des Auges bei Tageslicht.
Der VEB TuR (an den wir an anderer Stelle erinnerten) hatte im Rahmen eines recht umfangreichen Geschäftes mit einem nordafrikanischen Land in den 1980er Jahren u.a. 350 Kleinröntgenanlagen an private Arztpraxen des Landes verkauft. Diese Röntgeneinrichtung beinhaltete alles, was zur Anfertigung von Röntgenaufnahmen im Liegen und im Stehen notwendig war, und sie bot zusätzlich die (wenn auch nicht sehr komfortable) Möglichkeit der Durchleuchtung.
Bestandteil dieses Vertrages war die Vereinbarung, alle Geräte im Laufe des ersten Jahres durch deutsche Techniker einer technischen Revision zu unterziehen. Ich war einer dieser Techniker, die zu diesem Zwecke Tausende von Kilometern durch das Land fuhren, um Arztpraxen in den abgelegensten Gegenden aufzusuchen. So klingelte ich eines Tages an der Tür eines Arztes in einem verschlafenen Bergdorf – und das wirklich zur mittäglichen Schlafenszeit. Entsprechend verärgert war zunächst auch der Doktor. Er taute dann aber mehr und mehr auf und begriff die Chance, sich alles und auch die mitgelieferten Zubehörteile noch einmal genauestens erklären zu lassen – auch die Durchleuchtung, an der er sich bei einigen Patienten schon versucht hatte. Schließlich brachte er mir auch die mitgelieferte Adaptionsbrille und sagte: „Dieses Ding verstehe ich überhaupt nicht, wenn ich die beim Durchleuchten aufsetze, sehe ich gar nichts mehr!“